Der Verlag Suhrkampveröffentlichte 2013 ein Buch, das den versierten Leser in den Bann zieht. Das verschwommene Foto eines jungen Mannes und die roten Lettern des Titels "Das Verschwinden des Philip S." lassen schnell auf einen Krimi deuten. Doch auf der Rückseite dann das Bild einer jungen Frau, das darauf hinweist, dass beide in den 70er Jahre jung und revolutionär gewesen sein könnten. Ihr Name Ulrike Edschmid. Ist es ein Buch über einen längst verjährten Mord? Der Klappentext gibt Aufschluss. Es ist die Geschichte einer großen Liebe. Eine Geschichte, die das Leben eines sensiblen Mannes beleuchtet, der sich für Gerechtigkeit einsetzt und seinen Kampf mit dem Leben bezahlt. Schnörkellos schreibt die Autorin, ohne Pathos. Einfach und nüchtern blickt sie zurück.
Sie klagt an, ohne selbst direkt eine Anklageschrift für den Mann, der auch Vater für ihren Sohn war, zu schreiben. Sie berichtet. Beleuchtet die Familie. Klagt eine Gesellschaft an. Sie wertet nicht. Schafft Fakten. Der Leser, der das Buch nicht nur als unterhaltsame Literatur begreift, erkennt, dass Edschmid Demokratie, Presse und Monopol auf den Prüfstand stellt.
Doch genau mit diesem Schreibstil erreicht sie den Leser, der sofort Position bezieht. Philip S. war kein Mann, der sich den Studentenrevolten in den späten 60ern angeschlossen hat. Er will seinen ersten Film drehen, widmet sich seiner Arbeit mit großer Hingabe. Er hört zu bei den politischen Diskussionen, verfolgt sie, wird am Ende selbst verfolgt, muss flüchten. Philip wandelt sich vom einsamen Künstler zum Anarchisten, gibt auf, was ihm lieb und wert war. Zieht sich zurück. Ein Mann, der in sich selbst erschüttert ist, Utopie zur Realität machen will.
Edschmid gelingt es in ihrem Roman, jugendlichen Enthusiasmus und spätere reife Erkenntnis so zu gestalten, dass sowohl Sympathie als auch Unverständnis über "jugendlichen Leichtsinn" sich gekonnt paaren. Dabei überlässt sie es dem Leser, an welcher Stelle er sympathisiert, an welcher Stelle er kopfschüttelnd sein Unverständnis zum Ausdruck bringt.
Schwer belastet sie die Vorgehensweise. Klagt die Gewalt der Polizei an, aber auch die Gewalt der Veränderer. Stellt die Frage nach Berechtigung von Gewalt gegen Menschen und Sachen. Doch von der Autorin erfolgt keine Wertung. Sie schreibt Fakten auf. Nur ihre eigenen Gefühle zu ihrem Kind teilt sie mit dem Leser. Sie beschreibt die Missachtung von Dingen, die Visionen übersteigt. Drang nach Veränderung bei Unterwerfung aller anderen Seiten des Lebens. So entsteht während der Lektüre bei mir der Konflikt, dass hinterfrage, wie weit rechtfertigt das Bestreben nach gesellschaftlicher Veränderung das Handeln. Wie beurteile ich die von beschriebenen Tatsachen? Rechtfertigt das Ziel auch die Tatsache, dass Visionisten egoistisch gegen sich und ihre Mitmenschen vorgehen? Sind sie anders als die, gegen die sie kämpfen?
Ulrike Edschmid beschreibt ihre und Philips Wandlung. Sie zeigt auf, welche Gräben sie trennen, distanziert sich ganz klar von illegalen Taten. Im letzten Teil ihres Buches zeigt sie auf, dass anfänglich wohlgemeinte Veränderung in kriminelles Handeln umschlägt. Für sich selbst beschließt sie, sich ihren Verpflichtungen ihrem Sohn gegenüber zu stellen, nimmt dabei in Kauf, dass ihre Beziehung zu S. zerbricht. Schon lange kann sie es nicht mehr gutheißen, dass er sich mehr und mehr radikalisiert, ins kriminelle Milieu abrutscht. Das ist nicht das, was sie unter der Verwirklichung von Visionen versteht. Er nimmt in Kauf, dass er Frau und Kind verliert, möchte diese Verantwortung nicht tragen. S. stellt seine Ideale über Menschen, die ihn lieben. Egoismus? Selbstverwirklichung? Dem Leser ist die Einschätzung frei gestellt.
Für Edschmid sind die Sicherheit und das Glück ihres Kindes wichtiger als ein Kampf, der in der Vernichtung endet. Feigheit? Verantwortungsbewusstsein? Der Leser mag urteilen.
Schonungslos berichtet sie, dass sie mit ihrem Kind auch, nachdem sie sich längst von S. getrennt hat, noch immer unter dem kritischen Auge der Polizei steht. Ein sicheres Leben ist schwer für sie.
Doch das Glück ihres Kindes steht über der eigenen Verwirklichung. Philip S. dagegen verliert das eigentliche Ziel aus den Augen. Er wandelt sich vom Revolutionär zum Reaktionär, ja man kann fast sagen zum Terroristen. Wer mag das Vorgehen der Justiz dann verurteilen? Was tun Menschen, wenn sie in den Lauf einer Waffe sehen? Sie wissen doch genau, dass es darum geht, wer als erster den finalen Treffer landet.
Stellt sich mir die Frage: Was kann und was darf Revolution in unserer Gesellschaft? Die Bejahung gesellschaftlicher Veränderungen schließt nicht die Bejahung von Gewalt auf krimineller Ebene ein.
Lesenswert, wertvoll und mehr als seichte Unterhaltung. Eine Bereicherung auf unserem Buchmarkt, der tendenziell auf entspannende Unterhaltung abdriftet.